Cortisol, Depressivität und neurologische Behinderung bei früher MS
Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA) ist eine zentrale Instanz im Hormonhaushalt des Menschen. Sie ist unter anderem für die Ausschüttung von Cortisol, dem körpereigenen Cortison, zuständig und unterliegt tageszeitlich bedingten Schwankungen. Es gibt Hinweise auf eine überaktive HPA im frühen Stadium der Multiplen Sklerose (MS), also chronisch zu viel Cortisol produziert wird, und es wird angenommen, dass dies einen Einfluss auf das Fortschreiten der Erkrankung hat. Gleichzeitig stehen depressive Symptome in Zusammenhang mit erhöhten Cortisol-Spiegeln. Es ist bis heute jedoch wenig bekannt über die wechselseitige Beziehung zwischen depressiven Symptomen und HPA-Anomalien im tageszeitlichen Verlauf.
Forscher der neurologischen Abteilung des Uni-Klinikums Dresden haben sich dieser Frage gewidmet. Sie erhoben Daten zu depressiven Symptomen (mit dem einschlägigen Test „Beck Depression Inventory“ (BDI)), HPA-Funktionen im Tagesverlauf, Cortisolspiegel beim morgendlichen Aufwachen (Cortisol Awakening Response (CAR)) und die neurologischen Beeinträchtigungen bei 32 Menschen mit früher, schubförmiger MS und bei 16 gesunden Kontrollpersonen im selben Alters- und Geschlechtsverhältnis. Die Cortisolspiegel wurden mittels Speichelproben gemessen. Depressive Symptome wurden mithilfe eines Fragebogens erhoben und die neurologische Behinderung mit der einschlägigen Kurtzke-Skala (EDSS) gemessen.
Das Ergebnis war, dass die an MS Erkrankten eine deutlich höhere CAR zeigten als die gesunden Kontrollpersonen. Basierend auf der Stärke der depressiven Symptome konnten die Menschen mit MS in zwei Gruppen eingeteilt werden: Jene mit erhöhten depressiven Symptomen (BDI hoch) und jene mit schwach ausgeprägten oder keinen depressiven Symptomen (BDI niedrig). Diese beiden Gruppen unterschieden sich auch signifikant hinsichtlich ihrer Cortisolspiegel: Die Gruppe „BDI hoch“ wies deutlich höhere Cortisolspiegel auf als die Gruppe „BDI niedrig“. Letztere glich in diesem Punkt eher den gesunden Kontrollpersonen. Es stellte sich außerdem heraus, dass die MS-Erkrankten der „BDI hoch“-Gruppe stärker ausgeprägte Behinderungen gemäß EDSS hatten.
Die Dresdener Wissenschaftler sehen hierin einen Beleg dafür, dass eine hyperaktive HPA vor allem bei Menschen mit früher MS und ausgeprägteren depressiven Symptomen vorliegt. MS-Erkrankte mit nur mäßig ausgeprägten oder keinen depressiven Symptomen haben eher Cortisol-Spiegel, die denen von Gesunden gleichen.
Quelle:
Kern S, Schultheiss T, Schneider H, Schrempf W, Reichmann H, Ziemssen T
Circadian cortisol, depressive symptoms and neurological impairment in early multiple sclerosis.
Psychoneuroendocrinology. 2011 Nov;36(10):1505-12