Neurologen raten von einer Aufdehnung der Halsvenen als MS-Therapie dringend ab
Tausende Multiple-Sklerose-Patienten setzten in den vergangenen Jahren ihre Hoffnung in eine Verbesserung des Blutflusses ihrer Halsvenen – offenbar ohne wissenschaftliche Grundlage, wie eine aktuelle Studie aus Kanada nahe legt. Die Ende des vorigen Jahrzehnts entstandene Theorie, Multiple Sklerose werde durch eine Verengung der blutableitenden Venen im Hals- und Brustbereich mitverursacht, ist schon seit einiger Zeit äußerst umstritten. Nun zeigt eine aktuelle Studie, dass diese relativ simple Erklärung der komplexen Multiplen Sklerose nicht zutreffen kann: Die Blutabfluss-Störungen kommen bei viel weniger MS-Patienten vor als bisher gedacht – und gleich häufig wie bei Gesunden. Somit kann die als CCSVI bezeichnete Stauung nicht die Ursache der Erkrankung sein.
Auch in Deutschland bewerben Ärzte die Erweiterung der Halsvenen als Therapie bei Multipler Sklerose (MS) und bieten diese als Selbstzahlerleistung an. „Ihr Leidensdruck hat viele MS-Patienten dazu veranlasst, sich die Halsvenen dehnen zu lassen, um eine echte oder vermeintliche Stauung aufzulösen. Auch wenn dies für versierte Ärzte eine Standardintervention ist – die Deutsche Gesellschaft für Neurologie muss deutlich davon abraten, da kein Effekt auf den Verlauf der MS-Erkrankungen zu erkennen ist“, empfiehlt Professor Ralf Gold, Vorstandsmitglied des Neurologenverbandes und Mitautor eines ebenfalls aktuellen Literatur-Reviews, der zum gleichen Ergebnis kommt.
Venöser Blutstau deutlich seltener als behauptet:
Die Studie aus Kanada, veröffentlicht in „The Lancet“, untersuchte erstmals systematisch die inneren Jugularvenen und die Vena azygos von 79 MS-Betroffenen, 55 nicht erkrankten Geschwistern und 43 gesunden Probanden – und zwar nicht nur mittels Ultraschall, sondern auch mittels Katheter-Venographie, dem bildgebenden Gold-Standard für die Diagnose venöser Stenosen. Die nach standardisierten Test-Protokollen durchgeführte Studie unter der Leitung von Dr. Anthony Traboulsee von der University of British Columbia in Vancouver zeigt, dass eine „chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz“ (CCSVI), wie sie ursprünglich vom italienischen Gefäßchirurgen Paolo Zamboni definiert wurde, selten ist und nicht häufiger vorkommt als bei Personen ohne MS.
Der Theorie Zambonis zufolge führt eine chronische Blutabfluss-Störung in den inneren Jugularvenen oder in der Vena azygos zu einem erhöhten Druck im Gehirn mit nachfolgenden Entzündungsreaktionen (Zamboni 2006, Zamboni et al, 2009). Der von ihm empfohlenen Methode, MS mit einer Erweiterung dieser extrakranialen Venen positiv beeinflussen zu wollen, schürte verständlicherweise Hoffnung bei einer großen Anzahl von Patienten.
Die Wissenschaftler fanden mit der Katheter-Venographie die von Zamboni statuierten Merkmale für eine MS-relevante venöse Stauung gleichermaßen bei 2 Prozent der MS-Betroffenen und ihren nicht erkrankten Geschwistern. 3 Prozent der Gesunden erfüllten die Kriterien ebenfalls. Eine CCSVI ist demnach bei nicht von MS betroffenen Personen genauso häufig wie bei MS-Patienten.
Die Studie konnte außerdem zeigen, dass der Ultraschall zur Feststellung der CCSVI-Kriterien – ursprünglich auch von Zamboni benutzt – weder sensitiv noch spezifisch genug ist: Die Ultraschall-Resultate (CCSVI-Kriterien erfüllt bei 44 Prozent der Teilnehmer mit MS, 31 Prozent der Geschwister und 45 Prozent der Gesunden) wichen deutlich von den Befunden aus der Katheter-Venographie ab.
Literatur-Review durch deutsches Team kommt ebenfalls zu negativem Ergebnis:
Erst vor wenigen Wochen wurde auch das Ergebnis einer Zusammenschau der bisherigen Datenlage in der Zeitschrift „Aktuelle Neurologie“ veröffentlicht. Das deutsche Autorenteam kommt darin zu dem Schluss, dass auch die in Deutschland durchgeführten Studien keine Hinweise auf eine „venöse Genese“ der MS geben würden und die internationale Datenlage sehr uneinheitlich sei: „Die Ergebnisse unterstützen nachhaltig die Empfehlung, dass interventionelle Verfahren zur Erweiterung der venösen Halsgefäße nicht mehr außerhalb von klinischen Studien durchgeführt werden sollten“, so die Wissenschaftler.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, DGN